Die Geschichte der Nebenbahn
Göppingen - Boll Kapitel 6:
Betriebsalltag.
von Michael Ott
Der Betriebsalltag und die historische Entwicklung in den nun
folgenden fünf Jahrzehnten bis zu den ersten Stillegungsabsichten in den
70er Jahren ist Bestandteil des 6. Teils unserer geschichtlichen Rückschau.
Wie in Teil 5 bereits ausgeführt, wurde die Fahrzeit im Eröffnungsjahr
1926 auf 87 Minuten für eine einfache Strecke angesetzt, wobei die täglichen
Milchlieferungen von Boll nach Stuttgart (ca. 2000 Ltr.) im Fahrplan
besondere Berücksichtigung fanden. Bereits ein Jahr später, welch eine
Sensation, wurde als erste „Beschleunigungsmaßnahme" die Fahrzeit um 3
Minuten verkürzt. Die Erklärung für die lange Reisezeit: Die getrennte
Beförderung von Personen und Gutem gab es in den Anfangsjahren noch nicht,
so dass auf den Unterwegsbahnhöfen oft zeitraubend rangiert und verladen
wurde. Dennoch brachte das neue Verkehrsmittel für die vielen Berufstätigen,
die zuvor tagtäglich bei Wind und Wetter beschwerliche Fußmärsche zu den
Gewerbebetrieben im Filstal zurücklegen mussten, eine große Erleichterung
und Zeitersparnis.
Stärkere Lokomotiven und rationellere Betriebsablaufe bewirkten in der
Folgezeit weitere Fahrzeitverkürzungen bis herab auf 50 Minuten, wobei die
„Talfahrt" von Soll nach Göppingen stets 5 Minuten schneller als die
„Bergfahrt“ bewältigt wurde (Anm.: Der Höhenunterschied zwischen den beiden
Stationen beträgt exakt 104,70 m!). Im Mai 1927 gab es Verhandlungen
zwischen der Reichsbahn und den Anliegergemeinden betreffs unentgeltlicher
Wasserlieferungen für die eingesetzten Dampflokomotiven. Der tägliche Bedarf
betrug 15 cbm Wasser zu cbm-Preis von -.15 RM 1929 wurde ein Antrag zur
Verbesserung des Reisekomforts die 2. Wagenklasse einzuführen, dies wurde
von der Reichsbahndirektion Stuttgart mit der Begründung eines zu geringen
Wagenbestandes abgelehnt, die Zeit der nahen Weltwirtschaftskrise mit
Massenarbeitslosigkeit und grassierender Inflation warf bereits ihre
Schatten voraus („Schwarzer Freitag" an der New Yorker Börse am 25.10.29).
Weiteren Wünschen, wie z.B. nach besseren Anschlüssen zur Hauptbahn in
Göppingen und die Einführung eines sonntäglichen Spätzuges für heimreisende
Ausflügler ab Boll wurden im Laufe der Zeit entsprochen. Bei guter Witterung
wurde die Boiler Bahn an den Wochenenden von Naturfreunden, Wanderern,
Badegästen und Skifahrern gut frequentiert; besitzt die reizvolle Landschaft
mit Zielen wie Wasserberg, Fuchseck und Boßler eine wichtige
Erholungsfunktion für die werktätige Bevölkerung der Region (man bedenke:
Fernreisen waren damals für die meisten Leute ein unerreichbarer Luxus!).
Die Unterwegsbahnhöfe waren vorwiegend durch Agenden besetzt. Zumeist
handelte es sich um Ehefrauen von Eisenbahnern, die besondere
Arbeitsverträge mit der Bahnverwaltung abgeschlossen hatten und die den
Fahrkartenverkauf sowie die Frachtgutabfertigung übernahmen. Die Agentin des
Bhf. Schlat (dem einzigen Kreuzungsbahnhof) verdiente beispielsweise 1927
insgesamt 108,- RM bei einer täglichen Arbeitszeit zwischen 5.30 und 20.15,
wobei eine Arbeitsteilung mit dem Ehemann gestattet wurde. Die Bahnhöfe mit
dem höchsten Verkehrsaufkommen waren Boll, Holzheim und Heiningen.
Die Dampflokomotive prägte das Bild unserer Zweigbahn in den ersten drei
Jahrzehnten, bis der Betrieb mit dem Einsatz der ersten Schienenbusse ab
1952 eine wesentliche Änderung erfuhr. Der letzte fahrplanmäßige Dampfzug
verkehrte schließlich im Jahr 1965, es erfolgten jedoch noch zahlreiche
dampflokbespannte Sonderzüge. Bereits zu Beginn der 30er Jahre machte sich
die Konkurrenz des Straßenverkehrs in Ansätzen bemerkbar; zur „Ergänzung"
des Schienenverkehrs wurden sukzessive Lizenzen für Buslinien genehmigt:
1927 erhielt Jakob Hildenbrand eine
zunächst vorläufige Genehmigung zum Betrieb einer Kraftfahrlinie Boll
-Gammelshausen - Auendorf - Ditzenbach - Mühlhausen - Gruibingen -
Göppingen, welche zum Schutz der bestehenden Bahnlinien Göppingen - Boll und
Geislingen -Wiesensteig diverse Bedienungsverbote enthielt
1928 beantragte der Fuhrunternehmer
Otto Rapp eine Buslinie Göppingen - Schlat, die jedoch nur zwischen Bahnhof
Schlat und Ort Schlat genehmigt wurde (Anm,: der erste „Zubringerbus" zur
Boller Bahn!). Zur Erhöhung der Rentabilität richtete Rapp hier zusätzlich
einen LKW-Pendelverkehr ein.
Seit 1946 besteht eine durchgehende
Buslinie Göppingen-Schlat durch die Omnibus-Verkehrsgesellschaft Göppingen.
Der Güterverkehr auf der Boiler Bahn entwickelte sich zunächst sehr
erfreulich. Land- und forstwirtschaftliche Güter, Stückgut und eine gute
Anzahl privater Gleisanschlüsse zu Gewerbebetrieben sorgten für ein reges
Güteraufkommen. Herauszuheben sind die Anschlüsse bei Holzheim
(Ölschieferwerk, später Fa. Wackler) und zur Gralglas-Hütte In Dürnau
(weitere Infos In Teil 8 „Bahnhöfe und Anschlüsse"). Den 2. Weltkrieg
überstand die Strecke glücklicherweise völlig unbeschadet, und so konnte der
Betrieb unmittelbar nach Kriegsende wieder aufgenommen werden. In den nun
folgenden Nachkriegs- und Wirtschaftswunderjahren wurden die bis dato
höchsten Verkehrsleistungen erbracht; ein merklicher Verkehrsrückgang setzte
erst zu Beginn der 60er Jahre ein, was die Modernisierung des Fuhrparks (Verdieselung)
und Streckeninvestitionen (z. B. neue Brücke über alte B10) auslöste. Die
Fahrzeit für eine einfache Strecke konnte dadurch auf 25 Minuten gesenkt
werden. Noch 1972 benutzten täglich 2000 Pendler die Boiler Bahn bei einen
Angebot von immerhin 16 Zugpaaren, aber der immens steigende
Individualverkehr und die Buskonkurrenz forderten zunehmend ihren Tribut-
Zugverbindungen an Samstagnachmittagen / Sonn- und Feiertagen wurden aus
Kostengründen durch Bahnbusse ersetzt.
Am 3. und 4. Juli 1976 konnte unter großer Anteilnahme der Bevölkerung
das 50jährige Bestehen gefeiert werden, mit einem Heimatfest in Boll und
Dampfzügen der Gesellschaft zur Erhaltung von Schienenfahrzeugen e. V. (GES)
Stuttgart. Bereits im Folgejahr startete die Deutsche Bundesbahn ihren
ersten Versuch eines Stillegungsverfahrens für die gesamte Kursbuchstrecke
902, aber der kernige Motorsound der roten Schienenbusse gehörte noch
weitere 12 Jahre zum akustischen Alltag des Voralbgebietes! weiter mit [Edition 7:
Auf dem Weg zur Stilllegung] |
Geschichte
im Detail
verfasst von Michael Ott
Mit Engagement und Akribie befasste sich Michael Ott mit der Geschichte
der Boller Bahn.
Die folgenden Aufsätze geben ein umfassendes Bild der Entwicklung von der
ersten
Planung bis zur vorläufigen Stilllegung im Jahr 1989
Edition 1
Die Planungsphase seit 1899
Edition 2
1912 Expose von Dr. Keck
Edition 3
Das Endstadium der Planung
Edition 4
1926
Streckenbeschreibung
Edition 5
Die Eröffnung 1926
Edition 6
Fünf Jahrzehnte
Betriebsalltag
Edition 7
Auf dem Weg zur Stilllegung
Edition 8
Vorläufiger Abschied
Edition 9
Tourismus und Sonderzüge
Edition 10
Bahnhöfe und Gleisanschlüsse
|