Die Geschichte der Nebenbahn
Göppingen - Boll Kapitel 5: Die Eröffnung
1926.
von Michael Ott
Die Streckeneröffnung am 30. Juni/1.Juli 1926.
Bereits Monate vor dem offiziellen Eröffnungstermin lag der erste
Fahrplan für die Strecke Göppingen - Boll vor. Dabei fanden die täglichen
Milchlieferungen von Boll und Schlat (ca. 2.000 Liter) nach Stuttgart
besondere Berücksichtigung. Der Fahrplan sah folgende Abfahrtszeiten an den
Streckenendpunkten vor:
Boll ab:
5:25 Uhr - 10.50 Uhr - 16.30 Uhr - 18.20 Uhr (Sonntags)
Göppingen ab:
07.40 Uhr - 13.05 Uhr - 18.23 Uhr - 20.15 Uhr (Sonntags)
Die letzte Fahrt eines Betriebstages endete demnach in Boll. wo das
Zugpersonal im dortigen Lokschuppen übernachtete. Die Fahrzeit für die
Gesamtstrecke wurde mit 87 Minuten (!) angesetzt. Gegenüber der noch bis zum
30.06.1926 verkehrenden Pferdepost (siehe auch Teil 4), die nach Göppingen
den kürzesten Weg über Jebenhausen fuhr, erreichte das neue Verkehrsmittel
nur um 8 Minuten kürzere Fahrzeit - damals hatte man eben noch Zeit. Die
Ursache lag hierfür in den langen Rangieraufenthalten auf den
Unterwegsbahnhöfen, denn eine getrennte Beförderung von Personen und Güter
gab es in der Anfangszeit noch nicht.
Am 30. Juni 1926 fand zur offiziellen Bahneröffnung im Göppinger Rathaus
zunächst eine Festveranstaltung statt, die durch die Präsenz des damaligen
Staatspräsidenten Bazille, einige Ministerkollegen und hohe Beamten einen
würdigen Rahmen erhielt. Oberbürgenmeister Hartmann sprach dabei in sinniger
Weise u.a. jene Gedanken aus, die vor dem Hintergrund der Nachwirkungen der
Weltwirtschaftskrise und der damit verbundenen Arbeitslosigkeit Tausende
bewegte:
„Wir sind bescheiden geworden und werden noch bescheidener werden, auch
in unseren Verkehrsansprüchen. Aber wir sind alle durchdrungen von dem
Glauben, dass die schweren Wolken, die über unserem Land und Volk hängen,
einmal wieder der Sonne weichen werden. Wir glauben an den Sieg des Lebens,
an den Sieg unserer Volkskraft!"
Bei strahlendem Sonnenschein begann alsbald die Fahrt des
Eröffnungszuges, geführt von der reich geschmückten Lokomotive 94 114. Diese
Maschine der württembergischen Gattung Tn wurde 1921 von der Maschinenfabrik
Esslingen gebaut und gehörte zu diesem Zeitpunkt zum Bahnbetriebswerk
Geislingen (Steige).
In den ebenfalls blumengeschmückten Wagen fuhren die hohen Gäste, die
Damen mit rauschenden Röcken und großen Hüten und die Herren mit hohen
steifen Kragen und Zylindern. Der Staatspräsident hielt auf jeder Station
eine Rede und die örtlichen Chöre sorgten für die musikalische Umrahmung des
großen Ereignisses. Je näher der Zug nach Boll kam, desto mehr nahmen Blumen
und Fahnenschmuck auf den Stationen zu. In Heiningen und Dürnau erboten
Kapellen musikalische Grüße. Nach der Überlieferung herrschte in Boll das
reinste Volksfest; geradezu überwältigend war hier die Fülle an
Blumengirlanden und Fahnen, der gesamte Ort war auf den Beinen. Nur die
Bauern fehlten, weil es zuvor wochenlang geregnet hatte und Nachholbedarf
bei der Feldarbeit bestand. Gegen 12.30 Uhr begann der Boller Schultheiß
Wittlinger vor dem für damalige Verhältnisse sehr modernen Bahnhofgebäude
seine Ansprache mit folgenden Worten:
„Hurra - hurra - hurra!
Die Eisenbahn ist da!
Der heutige Tag, welch große Ehr',
Bringt uns Anschluß an den Weltverkehr."
Nach weiteren ernsten und heiteren Reden bewegte sich der Festumzug mit
den 80 Ehrengästen und der örtlichen Bevölkerung unter Mitwirkung des
Musikvereins Boll zum Gasthof „Post" (hier wurde am Tage zuvor die letzte
Postkutsche nach Göppingen verabschiedet). Zu Ehren, des Staatspräsidenten
und aus Anlass der Streckeneröffnung gab es für 220 Personen ein Menü von
Ochsenschweifsuppe bis Pudding der Marke Diplomat. Oberamtsmann Feurer aus
Göppingen ging in seiner Ansprache auf den Verlauf der Boller Bahngeschichte
ein, Schultheiß Wittlinger (seit 1919 Bürgermeister) betonte, dass Boll
nicht Endpunkt der Strecke bleiben, sondern Mittelpunkt einer
Verbindungsbahn Göppingen - Weilheim/Teck werden sollte. Einen Tag später,
am 1. Juni 1926 bekam die Bevölkerung ausgiebig Gelegenheit, das neue
Verkehrsmittel zu testen. Die Stimmung dieses Tages in Holzheim gibt ein
Auszug aus einem Artikel der Lokalzeitung „Hohenstaufen" vom 2 Juni 1926
recht gut wieder:
„... von 11 Uhr ab sammelte sich eine große Menschenmenge auf dem
Bahnhofsvorplatz an, die Kinder hatten Festtagskleidung angelegt und man sah
in ihren Gesichtern nichts als Freude und Jubel. Herr Schuttheiß Bühlmeier
mit den Gemeinderäten waren anwesend, welche mit dem Weihezug nach Boll
fuhren. Als der Zug kurz nach 12 Uhr in den hiesigen Bahnhof (Anm.:
Holzheim) einfuhr. stimmten die Kinder in Hochrufe ein und alles war voll
Begeisterung. Nach kurzem Aufenthalt, welcher durch Begrüßungsansprachen
ausgefüllt war, dampfte der Zug majestätisch weiter seinem Ziele zu. Die
Schuljugend marschierte nun nach ihren Schullokalen, wo dann jedes Kind eine
große Wurst, zwei Brezeln und eine halbe Mark bekam. Hier stieg die Freude
ins unendliche, denn durch diese Gaben wurden sie unendlich überrascht.
Nachmittags durften sie wie auch die Erwachsenen, soweit der Platz
ausreichte, eine Freifahrt nach Boll zum Kinderfest machen, was wohl den
Höhepunkt ihrer Freude bildete Es stiegen auch alte Männlein und Weiblein
zu, welche nie gedacht hatten, dass sie das noch erleben würden (Anm.: kein
Wunder bei der 27 jährigen Planungs- und Bauzeit) Abends von 8 Uhr ab gab es
in sämtlichen Wirtschaften zur Feier des Tages Freibier, welches von der
Brauereigesellschaft Englischer Garten Stuttgart in dankenswerter Weise
gestiftet wurde. Dieser Tag wird jedem Holzheimer zeitlebens in Erinnerung
bleiben, und man konnte immer wieder hören: "D'Hauptsach isch, daß mr etz au
a schwäbische Eisebah' hent!'
weiter mit [Edition 6:
Fünf Jahrzehnte
Betriebsalltag] |
Geschichte
im Detail
verfasst von Michael Ott
Mit Engagement und Akribie befasste sich Michael Ott mit der Geschichte
der Boller Bahn.
Die folgenden Aufsätze geben ein umfassendes Bild der Entwicklung von der
ersten
Planung bis zur vorläufigen Stilllegung im Jahr 1989
Edition 1
Die Planungsphase seit 1899
Edition 2
1912 Expose von Dr. Keck
Edition 3
Das Endstadium der Planung
Edition 4
1926
Streckenbeschreibung
Edition 5
Die Eröffnung 1926
Edition 6
Fünf Jahrzehnte
Betriebsalltag
Edition 7
Auf dem Weg zur Stilllegung
Edition 8
Vorläufiger Abschied
Edition 9
Tourismus und Sonderzüge
Edition 10
Bahnhöfe und Gleisanschlüsse
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