Die Geschichte der Nebenbahn
Göppingen - Boll Kapitel 4:
Streckenbeschreibung von 1926.
von Michael Ott
Am Vortag der Aufnahme des planmäßigen Betriebes, am 30. Juni 1926,
trat die bis dahin täglich zwischen Göppingen und Boll verkehrende
Postkutsche festlich geschmückt und herausgeputzt ihre letzte Fahrt an. Der
damalige Posthalter in Göppingen, Georg Geiger, betreute 1926 mit 18 Pferden
noch vier Postlinien: nach Gruibingen, Boll, Hohenstaufen und Lorch. Bei der
letzten Fahrt nach Boll saß Mathäus Hinderer als letzter Postillion
Göppingens auf dem Kutschbock. Er erhielt seinerzeit ein Monatsgehalt von 30
Mark mit frei er Kost und Logie; dies war trotz zusätzlicher Trinkgelder
nicht viel, ab man konnte damit durchaus leben (ein Glas Bier kostete damals
10 Pfennig). Am 1. Juli 1926 wurde die neue Bahnstrecke mit viel Prominenz
feierlich eröffnet, wobei die Dampflokomotive 94 114 den Eröffnungszug zog.
Nehmen wir also einen Fensterplatz ein und reisen mit Volldampf in die
sommerliche Voralblandschaft des Jahres 1926 hinaus. Die folgende
Streckenbeschreibung und die Streckenkarte auf den Seiten 4 und 5 stammen
aus der bereits in Teil 2 zitieren Denkschrift von 1912.
"Die Nebenbahn beginnt auf dem Bahnhof Göppingen der Hauptbahn
Stuttgart-Ulm und zieht innerhalb des Stadtbezirks Göppingen neben der
Hauptbahn in der Richtung gegen Ulm und zwar auf deren südlicher Seite hin.
Außerhalb des städtischen Bereichs hat sodann die Linie auf möglichst kurzem
Wege das Filstal zu überschreiten, um das Dorf Holzheim westlich zu umgehen;
eine östliche Umgehung erscheint ausgeschlossen, weil die Bahn sich in der
Folge östlich gegen Heiningen zu wenden hat. Zwischen Göppingen und Holzheim
wird zum ersten Male die Einlegung jener größten Steigung von 1:45
notwendig, um den Vizinalweg Göppingen-Holzheim bei km 3,145 in Schienenhöhe
überschreiten zu können. Die Haltestelle Holzheim konnte in unmittelbarer
Nähe des Dorfes und so gelegt werden, dass für den größten Industriellen des
Dorfes - die Firma "Württembergische Genossenschaftsbrauerei Holzheim" - die
Anlage eines Anschlussgleises in einfacher Weise ermöglicht wird.
Von der Haltestelle Holzheim aus steigt die Bahn am linken Hange des
Weiterbachtals auf und gelangt in die Nähe der Weiler St. Gotthardt,
Gemeinde Hotzheim und Ursenwang, Gemeinde Schlat, für welche beide
Haltepunkte vorgesehen sind. In der Folge erreicht sodann die Bahn das
Eschenbächle, nach dessen Überschreitung ein Haltepunkt Eschenbach
angeordnet ist. Zwischen dem Haltepunkt Eschenbach und der Haltestelle
Heiningen befindet sich das tief eingeschnittene Heubachtal; es wäre nun
möglich gewesen, in steter Fortsetzung der Steigung der Bahn bezw. durch
Einlegung einer Horizontale mit anschließender Steigung durch eine
Ausbiegung gegen Südwesten die Linie fortzuführen, so dass sich von
Göppingen bis Station Boll nur Steigungen, keine Gefälle ergeben würden. Man
hat vorgezogen, vom Haltepunkt Eschenbach aus die Linie in gerader Richtung
gegen Westen zu führen und mit dem Verhältnis 1:150 gegen das Heubachtal
abzufallen, wodurch sich eine verlorene Steigung von 6,00 Meter ergibt; es
wurde hierdurch die Linie um 300 - 400 Meter verkürzt, eine günstigere
Horizontalprojektion der Linie erzielt und der Damm über den Heubacb von 14
Meter auf 11,5 Meter beschränkt.
Die Haltestelle Heiningen liegt südlich vom Dorf unmittelbar westlich an
der Verbindungsstraße Heiningen-Gammelshausen; auch hier lässt sich ein
Gleisanschluss etwaiger Industriebetriebe, z.B. der Dampfziegelei Heiningen,
leicht ermöglichen. Nicht mit Unrecht ist seitens eines Teils der Interessen
die Lage der Haltestelle Heiningen in einer Beziehung bemängelt worden. Es
wurde nämlich die Befürchtung ausgesprochen, dass die Bewohner der Mitte und
des nördlichen Endes des Dorfes die Bahn nicht benützen würden, da sie
genötigt seien, 500-1000 Meter in der Göppingen entgegengesetzten Richtung
zu gehen, um mit der Bahn mit dem beträchtlichen Umweg über Ursenwang und
Holzheim nach Göppingen zu gelangen. Dieses Bedenken besteht seit Beginn der
Projektierung, allein, wenn die Bahn einmal über Holzheim und nicht von
Göppingen aus unmittelbar durch das Heubachtal geführt werden soll, so
erscheint angesichts der Geländeverhältnisse bei Heiningen eine andere
Lösung, wenn dieselbe Anspruch auf wirtschaftlichen und technischen Wert
zugleich machen soll, kaum denkbar.
Von der Haltestelle Heiningen aus wendet sich die Bahn in südwestlicher
Richtung gegen das Dorf Dürnau, indem sie auf die ganze Länge zwischen
beiden Stationen mit 1:45 ansteigt. Die Ermäßigung dieser Steigung hätte nur
durch eine beträchtliche Verlängerung der Linie mit wesentlich ungünstiger
Horizontalprojektion bewirkt werden können. Die Haltestelle
Dürnau-Gammelhausen liegt unmittelbar nordöstlich von Dürnau. Von der
Haltestelle Dürnau ab zieht sich die Bahn in südwestlicher Richtung gegen
Boll. Die langgestreckte Gestalt dieses Dorfes, dessen nördlicher Teil in
der Karte mit Sehningen bezeichnet ist, die Gestaltung des Geländes nördlich
und südlich von Boll, und endlich die Lage von Bad Boll gegen Dorf Boll
verbietet sowohl eine nördliche als eine südliche Umgehung des letzteren; es
erscheint geboten, das Dorf in der Mitte zu durchfahren, wenn sich auch
hierdurch die Notwendigkeit der Erwerbung einiger Häuser ergibt. Die Station
Boll kann hierdurch in geeigneter Weise unmittelbar westlich vom Dorf mit
guter Zufahrt von der Hauptstraße her angeordnet werden. Bei Fortsetzung der
Bahn von der Station Boll aus gegen Bad Boll muss ein Gefälle von 1:65
eingelegt werden, um die Linie gegen das tiefer gelegene Bad zu führen;
östlich von demselben soll neben dem Weg, der vom Bad zum Dorf führt, die
Haltestelle angelegt werden. Die Linie ist hier so geführt, dass eine
etwaige Fortsetzung derselben in der Richtung nach Weilheim, zunächst über
Eckwälden und Zell möglich ist."
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Die Eröffnung 1926] |
Geschichte
im Detail
verfasst von Michael Ott
Mit Engagement und Akribie befasste sich Michael Ott mit der Geschichte
der Boller Bahn.
Die folgenden Aufsätze geben ein umfassendes Bild der Entwicklung von der
ersten
Planung bis zur vorläufigen Stilllegung im Jahr 1989
Edition 1
Die Planungsphase seit 1899
Edition 2
1912 Expose von Dr. Keck
Edition 3
Das Endstadium der Planung
Edition 4
1926
Streckenbeschreibung
Edition 5
Die Eröffnung 1926
Edition 6
Fünf Jahrzehnte
Betriebsalltag
Edition 7
Auf dem Weg zur Stilllegung
Edition 8
Vorläufiger Abschied
Edition 9
Tourismus und Sonderzüge
Edition 10
Bahnhöfe und Gleisanschlüsse
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