Die Geschichte der Nebenbahn
Göppingen - Boll Kapitel 3:
Endstadium der Planungen
von Michael Ott
Der im letzten Kapitel
gezeigte Auszug aus der 1912 verfassten Denkschrift des damaligen Göppinger
Bürgermeisters Dr. Keck enthält bereits eine präzise Beschreibung des
Streckenverlaufes, die geschätzten Grunderwerbs- und Baukosten sowie eine
Analyse des zu erwartenden Verkehrsaufkommens. Sie wurde im Jahre 1912 der
Regierung und den Landständen unterbreitet. Nach ihrer Veröffentlichung
reagierte die Gemeinde Weilheim mit einer Eingabe an die Behörden und den
Landtag mit dem Vorschlag, die Stecke über Bad Boll hinaus bis Weilheim
weiterzuführen. Eine nochmalige Überarbeitung des Kostenvoranschlages
ergaben nun Aufwendungen in Höhe von 2.300.000,-Mark, was einer
Kostenverdoppelung gegenüber dem Jahr 1904 entsprach.
Dem Ziel „Baubeginn" war man zu diesem Zeitpunkt trotzdem greifbar
nahegekommen, denn 1913 wurde (endlich!) der Bau einer normalspurigen
Nebenbahn von Göppingen bis vorerst Boll bewilligt. Leider wurde die Freude
über diesen langerkämpften Teilerfolg mit dem Ausbruch des 1. Weltkrieges
(1914), der sämtliche Kräfte band, vorzeitig gedämpft. In Voraussicht der
kommenden Arbeitslosigkeit nach Kriegsende richtete im November 1918 der
Vorstand des Oberamtes Göppingen, Dr. Schönmann, eine dringende Eingabe an
die Generaldirektion der Württembergischen Staatseisenbahnen, sie möge im
Interesse der Arbeitsbeschaffung für die heimkehrenden Soldaten den Bahnbau
nach Boll unverzüglich in Angriff nehmen. Diese Forderung wurde auch von
Göppingens OB Dr. Keck energisch unterstützt. Am 14.12.1918 meldete sich
zudem das Schultheißenamt Heiningen mit einer bemerkenswerten Mitteilung:
Der dortige Arbeiter- und Bauernrat hatte beschlossen, das Bahnprojekt
wieder aufzunehmen, allerdings mit einer Trassenführung über Henningen, wie
dies im Jahr 1900 bereits angedacht war. Nach nunmehr 20-jähriger
Planungszeit ermöglichte schließlich ein Gesetz der Württembergischen
Regierung vom 17. Mai 1919 den Beginn der Bauarbeiten unter der Federführung
der Württembergischen Staatseisenbahnen. Doch wer glaubte, alles ginge jetzt
„Schlag auf Schlag", der wurde bald eines besserten belehrt; der Bahnbau
erfuhr nicht wenige, teils empfindlich lange Verzögerungen und zwar in den
folgenden Jahren:
- 1920: Rechtsunsicherheiten infolge des Überganges der Länderbahnen auf
das Deutsche Reich; die Württembergische Staatseisenbahn wird aufgelöst;
Gründung der Deutschen Reichsbahn 1924.
- 1921: Ein Bericht der Eisenbahnbau-Sektion Göppingen an die
Generaldirektion Stuttgart (am 02.04.1921) meldete massive Dammrutschungen
im Katzenbachtal (Markung Heiningen) infolge Wasserzudranges. Das frisch
aufgeschüttete Material fand an der teilweisen glatten und steilen
Uferböschung des alten Bachlaufes keinen Halt und rutschte an den
schlüpfrigen Flächen des Ölschiefers ab. Zur Schadensbehebung wurden
180.000,- Mark bewilligt; durch die Verteuerung des Materials und
steigende Löhne erhöhten sich die Kosten jedoch auf 344.000,- Mark. Der
Tages Grundlohn eines Bauhilfsarbeiters stieg innerhalb von 5 Monaten von
5,28 Mark (19.05.1921) bis zum Ende der Ausbesserungsarbeiten am
18.01.1922 auf 7,80 Mark.
- 1922/23: Die galoppierende Inflation führt zur drastischen
Geldentwertung; 1923 kommen die Bauarbeiten gänzlich zum Erliegen. Nach
Stabilisierung der Währung im Dezember 1923 mussten für den Bahnbau
25.000,- Goldmark zusätzlich aufgebracht werden; 1925 noch einmal
100.000,-Goldmark.
- 1925: Wegen akutem Kohlemangels (für Lorenbahn und Dampfkran) mussten
die Arbeiten am Baulos 1 im März vorübergehend eingestellt werden; 130
Notstandsarbeiterwerden arbeitslos.
Trotz aller Widrigkeiten kam man der Fertigstellung der Boiler Bahn
langsam aber sicher näher. Wurden vor dem 1. Weltkrieg bei Bahnbauarbeiten
noch viele (billige) Arbeitskräfte vorwiegend aus südeuropäischen Ländern
„angeheuert", kamen hier zur Bekämpfung der hohen Arbeitslosigkeit fast nur
heimische Kräfte zum Einsatz. Die knochenharte Handarbeit mit Pickel ,
Schaufel und Spaten erfuhr auch durch den Einsatz von mobilen Feldbahnen und
Dampfkränen kaum Erleichterung. Bereits 1921 konnte die Gewölbebrücke
(Stampfbeton) über die Fils mit einer lichten Weite von 23,60 m und einer
lichten Höhe von 8,50 m fertiggestellt werden. Schon 1919 setzte sich der
Boiler Schulheiß Wittllinger für die Beschleunigung des Bahnbaues ein, wobei
ihm v.a. die Lage des Boiler Bahnhofes ein Anliegen war; drei Varianten
kamen in Frage:
- das Kurhaus wünschte den Bahnhof möglichst nahe dem Bad, verzichtete
jedoch darauf nach Zusicherung einer guten Wegeverbindung zum heutigen
Bahnhof.
- ein Haltepunkt im Ortszentrum und die Endstation am Bad gemäß
ursprünglicher Planungen von 1912.
- die Eisendirektion favorisierte den (letztlich realisierten) Standort
„am Brüh!", weil dieser am kostengünstigsten war. Hierbei sorgte die
Versetzung des Hauses Nr. 98 in Boll für Aufregung: Die Eigentümerin war
mit dem geplanten Abbruch nicht einverstanden und verlangte eine
„Verschiebung" um 15-20 Meter incl. schlüsselfertiger Übergabe. Dem
Vorhaben (Kosten 32.000,- Mark) wurde zugestimmt und Anfang 1922
abgeschlossen.
In Einzelfällen konnte beim Bahnbau sogar gespart werden. Aus der
Abschlussrechnung vom 20.12.1926 geht z.B. hervor, dass die Kosten für die
Bahnhofnebengebäude in Boll 1.365,- Mark unter dem Voranschlag lagen.
Die Anzahl der Kunstbauten und Erdbewegungen waren im Vergleich zu vielen
anderen Bahnstrecken relativ gering. Nur eine größere Brücke (über die Fils)
, vier gewölbte und drei offene Durchlässe sowie eine Reihe von
Zementröhrendolen waren zu errichten. Insgesamt wurden 49.630 cbm Erde
bewegt, was 3,824 cbm für den laufenden Meter entspricht. weiter mit [Edition 4:
1926
Streckenbeschreibung] |
Geschichte
im Detail
verfasst von Michael Ott
Mit Engagement und Akribie befasste sich Michael Ott mit der Geschichte
der Boller Bahn.
Die folgenden Aufsätze geben ein umfassendes Bild der Entwicklung von der
ersten
Planung bis zur vorläufigen Stilllegung im Jahr 1989
Edition 1
Die Planungsphase seit 1899
Edition 2
1912 Expose von Dr. Keck
Edition 3
Das Endstadium der Planung
Edition 4
1926
Streckenbeschreibung
Edition 5
Die Eröffnung 1926
Edition 6
Fünf Jahrzehnte
Betriebsalltag
Edition 7
Auf dem Weg zur Stilllegung
Edition 8
Vorläufiger Abschied
Edition 9
Tourismus und Sonderzüge
Edition 10
Bahnhöfe und Gleisanschlüsse
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