Die Geschichte der Nebenbahn
Göppingen - Boll Kapitel 2: Denkschrift v. Dr. Keck, 1912
von Michael Ott
In den letzten "Voralbbahnnachrichten" haben wir Ihnen die ersten
Planansätze zum Bau der Boller Bahn beschrieben . Heute veröffentlichen wir
innerhalb dieser Serie die Denkschrift des Göppinger Bürgermeisters Dr. Keck
aus dem Jahre 1912 zum damals zu erwartenden Verkehrsaufkommen:
"Diese Gegend (Anm.: das Voralbgebiet) weist eine intensiv betriebene
Landwirtschaft auf, bei welcher Rindvieh- und Schafzucht, sowie Obstbau
besonders hervortreten. Aus den von der projektierten Bahn direkt berührten
7 Landgemeinden werden täglich über 6000 Liter Milch nach Göppingen und
Stuttgart geliefert, während etwa 2500 Liter zu Butter und Käse verarbeitet,
zum Versand kommen. An Schlachtvieh werden aus diesen Orten jährlich etwa
ausgeführt ca. 1100 Kälber, 1400 Rinder, 600 Kühe (letztere hauptsächlich
nach Straßburg, Kehl und Mannheim) sowie 500 Schweine. Von 15.000 Schafen
gehen etwa 5000 Stück vorzugsweise nach der Schweiz und dem Elsaß ab. Der
Obstertrag beziffert sich in guten Erntejahren auf ca. 120.000Ztr., wovon im
Durchschnitt 40 % ausgeführt werden. In den letzten 12 Erntejahren 1900-1911
blieben nur 2 Jahre ohne Lieferung nach auswärts. Aus den in Betracht
kommenden 1500 ha Laubwaldungen gelangen jährlich mindestens 1000 Fm.
Stammholz zur Ausfuhr. Was die Industrie anbelangt, so sind in den
beteiligten Gemeinden einige größere Betriebe vorhanden, deren erhebliche
Ausdehnung durch eine Bahn als gesichert erscheint. Besonders erwähnenswert
ist die im letzten Jahr ins Leben gerufene Genossenschafts-Brauerei Holzheim,
welche ihren bisherigen Absatz von ca. 30 000 hl nach Fertigstellung der
zurzeit in der Ausführung begriffenen Erweiterungsbauten zum mindesten auf
das Doppelte steigern wird. Von dem erzeugten Quantum werden etwa 3/4 nach
Cannstatt und Stuttgart geliefert. Dem erhöhten Umsatze entsprechend
steigert sich natürlich auch die Einfuhr der Rohmaterialien. Von
wesentlicher Bedeutung sind die auf der Nordseite des Dorfes Boll
vorhandenen ausgedehnten Lager von Zementsteinen, ebenso wie die in allen
beteiligten Gemeinden am Albtrauf sich findenden unerschöpflichen Vorräte an
Kalk- und Sandsteinen. All diese Lager wurden bisher nur in geringerem Maße
ausgebeutet. Es besteht jedoch kein Zweifel darüber, dass nach Erstellung der
Bahn mit einer großen Transportmenge an Kalk- und Zementsteinen gerechnet
werden darf. Für den Personenverkehr mag angeführt werden, daß der
Personenverkehr Göppingen-Boll der stärkste im Lande ist; es kommen, wie
statistisch nachweisbar, jährlich 8030 Personen (im Durchschnitt täglich 22)
zur Beförderung. Daneben benützen - insbesondere nach und von Bad Boll etwa
3000 Personen Privatwagen. Der besondere Personenverkehr Göppingen-Heiningen
und Göppingen-Schlat ist in obige Zahlen nicht eingerechnet. In Bad Boll, das
den Endpunkt der Bahn bilden soll, befindet sich eine seit der Mitte des 16.
Jahrhunderts benützte Schwefelquelle. Das reizend gelegene Bad ist ein das
ganze Jahr hindurch viel besuchter Erholungsort. Der in unserer Gegend schon
heute bestehende lebhafte Touristenvekehr wird beim Vorhandensein einer Bahn
zweifellos noch erheblich zunehmen, weil dann auch beliebte Ausflugspunkte
des Albvereines wie Fuchseck, Boßler, Reußenstein u.a. weit bequemer
erreicht werden können. Eine ganz besondere Bedeutung erlangt indessen die
zu erstellende Bahn dadurch, dass sie nicht nur den schon heute in der Stadt
Göppingen beschäftigten, zahlreichen Arbeitern, welche in den von der Bahn
berührten Ortschaften wohnen, Gelegenheit gibt, täglich ohne Überanstrengung
Wohn- und Arbeitsstätte zu wechseln, sondern auch eine große Anzahl
weiterer, bisher nur teilweise ausgenützter Arbeitskräfte dem
Geschäftszentrum zuführt. Diesen Leuten wird die Möglichkeit geboten, ohne
Trennung von der heimatlichen Scholle für sich und ihre Familien ausreichend
Verdienst zu finden, während auf der anderen Seite einem fühlbaren
Arbeitermangel in der Stadt gesteuert werden kann."
weiter mit [Edition 3:
Das Endstadium der Planung] |
Geschichte
im Detail
verfasst von Michael Ott
Mit Engagement und Akribie befasste sich Michael Ott mit der Geschichte
der Boller Bahn.
Die folgenden Aufsätze geben ein umfassendes Bild der Entwicklung von der
ersten
Planung bis zur vorläufigen Stilllegung im Jahr 1989
Edition 1
Die Planungsphase seit 1899
Edition 2
1912 Expose von Dr. Keck
Edition 3
Das Endstadium der Planung
Edition 4
1926
Streckenbeschreibung
Edition 5
Die Eröffnung 1926
Edition 6
Fünf Jahrzehnte
Betriebsalltag
Edition 7
Auf dem Weg zur Stilllegung
Edition 8
Vorläufiger Abschied
Edition 9
Tourismus und Sonderzüge
Edition 10
Bahnhöfe und Gleisanschlüsse
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